Namenlose Natur?

In meiner Kindheit waren wir jedes Wochenende mit den Eltern im Umland wandern. Mit Bus und Bahn gelangten wir an jeden gewünschten Ort und liefen los. Die Eltern trafen viele Bekannte am Wegesrand oder in den Wiesen und bestimmten die unbekannten Pflanzen meistens mithilfe des legendären fast bilderlosen Bestimmungsbuchs „Schmeil-Fitschen“. Oftmals konnten sie sich nicht einigen; dann wurde gewettet – wobei meine Mutter meistens gewann. Seit dieser Zeit kenne ich viele Blumen, Bäume und Sträucher, und es erscheint mir wichtig (und auch höflicher;-), sie namentlich anzusprechen, wenn ich unterwegs bin. Eine besondere Herausforderung ist es, den lateinischen Vor- und Nachnamen parat zu haben. Der deutsche Name sollte aber genügen, um den Pflanzen Aufmerksamkeit zu schenken. Wer die Pflanzen in seinem Umfeld kennt, bemerkt eher, sollte es eine davon nicht mehr geben. „Seltsam, hier stand doch sonst immer der Bachnelkenwurz!“ Doch botanisches Basiswissen ist (nicht nur in der Stadtgesellschaft) nicht sehr verbreitet. Und vielleicht trifft auch hier zu: Man sieht nur, was man weiß bzw. was man benennen kann.

Diese Brücke von „verlorenen Worten“ zu verlorenem Wissen schlägt auch ein englisches Projekt, das diesen Namen trägt. Die Autor*innen beobachteten, dass immer wieder Wörter aus dem Bereich der Natur aus den „Oxford Junior Wörterbüchern“ verschwinden (so z.B. „Moos“ und „Brombeere“) und Wörter aus Technik und Informatik ergänzt werden (wie z.B. „Chatroom“ und „Datenbank“). Dagegen protestierten auch einige namhafte englischsprachige Autor*innen (vgl. taz vom 8.9.2022, https://taz.de/Natur-in-der-Sprache/!5876652/). Sie fragten sich, ob manche Wörter ebenso wie manche Tier- oder Pflanzenarten vom Aussterben bedroht seien. Und ob die Gefahr besteht, dass die Wörter aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden.

Sprachlicher Wandel sowie eben auch ein Wandel des Wortschatzes bildet den Wandel der Gesellschaft ab und ist nicht aufzuhalten. Ich bin die letzte, die sich offizielle oder selbsternannte Sprachpfleger*innen herbeiwünscht. Und auch wenn Begriffe wie „Moos“ und „Brombeeren“ aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden sollten, gibt es natürlich weiterhin Moos und Brombeeren im Wald. Junge Leute allerdings, die die Pflanzen (und auch Tiere) der sie umgebenden Natur nicht kennen (schlimmstenfalls: nicht wahrnehmen) und nicht benennen können, haben immer weniger Chancen, eine gute Naturbeziehung aufzubauen. Und wir wissen ja, wie förderlich die Natur für uns ist (siehe meinen Post vom September 2022: „Der Wert der Natur“).

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